Dieser Artikel erschien im August 2022 im Magazin personal manager.
Beim existenziellen Coaching geht es nicht darum, Ziele zu setzen und Lösungen zu finden. Diese neue Coaching-Richtung begreift Herausforderungen als Aufforderung, die wesentlichen Fragen aufzuspüren, die sich hinter den auftauchenden Problemen verbergen. Denn erst dann können wir zu einer stimmigen Entscheidung und ins entschiedene Handeln kommen.
Dabei geht das existenzielle Coaching von dem Grundgedanken aus, dass der Mensch frei ist, trotz aller äußeren Einflüsse. Er ist nicht nur die Summe seiner Rollen, sondern kann sich positionieren und entscheiden – wenn es ihm oder ihr nicht abtrainiert wurde. Wer nie die Möglichkeit hat, einen eigenen Weg zu gehen, muss das daher erst mühsam lernen.
Die Fähigkeit, sich zu positionieren und zu entscheiden, hilft Menschen, sich als selbstwirksam zu erleben, Sinn in ihrem Tun zu finden und auf diesem Wege resilienter zu werden. Und genau das benötigen wir in diesen krisenhaften Zeiten.
Die zentrale Botschaft des existenziellen Coachings: Stellen Sie die Menschen zu jeder Zeit in den Mittelpunkt ihrer Gespräche. Reden Sie mit ihnen statt über sie. Nicht nur über Aufgaben, Ziele, Lösungswege, sondern darüber, was sie bewegt. Welche Gedanken und welche Gefühle die aktuellen Herausforderungen auslösen. Welche Fragen in ihnen auftauchen. Was sich für sie persönlich verändert hat und was das mit ihnen macht.
Der Psychologe Alfried Längle hat vier grundlegende Anforderungen an eine gute Existenz unterschieden (eine ausführliche Darstellung dieser Anforderungen finden Sie in Ausgabe 4/2022).
Aus diesen Anforderungen lassen sich Fragen ableiten, mit denen Sie die tiefen Beweggründe Ihrer Mitarbeitenden, Kolleginnen und Kollegen gemeinsam erforschen können. Nicht, damit Sie diese besser verstehen, sondern damit die Menschen, die Sie unterstützen, sich selbst besser verstehen. Diese Fragen lauten:
- Wie gut sind Sie in der Lage, Ihre Aufgaben auszuführen? Wissen Sie, wie es funktioniert? Steht Ihnen alles Notwendige zur Verfügung? Wird Ihnen vertraut? Haben Sie den Mut?
- Wie sehr mögen Sie, was Sie tun? Freuen Sie sich auf die Arbeit, die Aufgabe, Ihre Kolleginnen und Kollegen? Oder kostet es Sie Überwindung? Langweilt es Sie?
- Wie weit wird die Organisation oder die Aufgabe Ihnen gerecht? Werden Sie gesehen und gehört? Ist Ihre Meinung, sind Ihre Ideen gefragt? Wie finden Sie eigentlich ...?
- Welchen Sinn finden Sie in Ihrer Tätigkeit? Welchen Sinn stiften Sie? Ist Ihnen klar, was wäre, wenn Sie Ihre Aufgabe nicht erfüllen würden? Wer braucht Sie? Wofür stehen Sie? Was soll Ihr Beitrag zur Welt sein? Und was wollen Sie wirklich?
Wir brauchen heute weniger Planung und Zielsetzung, als wir gewohnt sind. Vielmehr sind alle aufgefordert, sich mit den Herausforderungen ganz persönlich auseinanderzusetzen und eine eigene Position zu finden. Dazu helfen die oben genannten Fragen. Mit dieser Orientierung, geleitet von klaren Werten und von der Stimme des Gewissens können Sie zu einer Entscheidung und in entschiedenes Handeln kommen.
Ihre Mitarbeitenden können Sie in dieser zweiten Phase durch folgende Fragen unterstützen:
- Was ist das Wesentliche, das sich in dieser Situation zeigt? Worum geht es im Kern? Was ist wichtig? (Werte)
- Wie stehen Sie zu …? Und was wäre richtig zu tun? (Gewissen)
- Im Gesamtkontext betrachtet, was wäre sinnvoll? (Sinn)
- Was wollen und werden Sie nun tun? (entschiedene Handlung)
Nehmen wir das Beispiel eines Unternehmers, der mit einem Mitarbeiter zu tun hatte, der sehr niedrige Arbeitsleistungen erbrachte. Nach der traditionellen Schule wäre hier ein deutliches Feedback, das Formulieren klarer Erwartungen und Verdeutlichen von Konsequenzen angesagt gewesen.
Stattdessen stellte der Unternehmer folgende existenzielle Frage: „Magst du eigentlich, was du tust?“ Es ist leicht vorstellbar, dass dieses Gespräch einen anderen Verlauf nahm, einen ganz anderen Charakter hatte, als ein sonst übliches Kritikgespräch. Dabei wurde offensichtlich, welches Motivationsdefizit zum Verlust der Arbeitsleistung geführt hatte.
Klar, das macht es nicht unbedingt leichter, damit umzugehen. Nicht immer findet sich für das, was die Mitarbeitenden wirklich motivieren würde, eine Entsprechung in einer anderen Tätigkeit. In jedem Fall aber macht das Wissen um das Wesentliche darin die anstehenden Entscheidungen stimmiger und besser. Auch wenn es sich um eine Trennung handelt.
Im Falle unserer Führungskraft führte dieses Gespräch zu einem unerwarteten Win-Win-Ergebnis: Der Mitarbeiter wird in Zukunft eine andere, fürs Unternehmen neue und wesentliche Aufgabe übernehmen. Er ist hochmotiviert. Die Entscheidung zahlt sich für beide aus.
Ein weiteres Beispiel liefert Janine B., Personalreferentin. Als Mitarbeiterin Marianne K. kündigte, nahm sie sich Zeit und stellte die oben genannten Fragen. Dabei zeigte sich, dass Marianne K. für die Arbeit selbst durchaus motiviert war. Der Job passte. Es gab auch keine zwingenden privaten Gründe für die Kündigung. Was also war los? Worum ging es hier im Kern?
Das ehrliche Interesse, das Janine B. an Marianne K. zeigte, offenbarte, dass diese sich schlicht am Lebensort nicht eingebunden fühlte und sich von einem Ortswechsel Besserung versprach. Im Gespräch wurde ihr dann jedoch bewusst, dass sie die inneren Ursachen dafür mitnehmen würde. Sie entschloss sich, einen anderen Weg zu mehr Zugehörigkeit am Ort zu suchen und nahm ihre Kündigung zurück. Ein einstündiges Gespräch konnte so eine wertvolle Mitarbeiterin halten und erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass diese wirklich findet, was sie sucht.
Das ist der Kern des existenziellen Coachings: über das Wesentliche miteinander zu reden, dialogische Gespräche zu führen aus einer Haltung der Offenheit. Sich Zeit zu nehmen füreinander. Sich wirklich zu interessieren. Dafür, was andere erleben. Was ihnen wichtig ist. Für ihre Meinung. Dafür, was sie für richtig halten und was für falsch. Und Menschen dazu miteinander ins Gespräch bringen.
So finden sich nicht nur Lösungen, sondern sinnvolle Wege, gute Entscheidungen. Dann steht nicht mehr Leistung im Mittelpunkt sondern der Mensch. Und so werden Unternehmen zukunftsfähig.
Ich wünsche Ihnen gute Erfahrungen, Freude an den Ergebnissen und viele sinn-stiftende Gespräche. Experimentieren Sie ruhig ein wenig. Sie werden merken, wie schnell Sie durch die beschriebenen Coaching-Fragen zu den wesentlichen Themen vordringen und welche neuen Möglichkeiten sich dadurch zeigen. Und Sie werden oft überrascht sein, worum es Ihrem Gegenüber wirklich geht.